Das erste Lebenszeichen!
Außerhalb von La Zarza, Jumilla, Spanien, im Norden Murcias.
Heute, 05.12.2025 : Das erste Lebenszeichen!
Zum fünften Mal ist mir nun die Schraube schon runtergefallen. Fluchend bücke ich mich, um das gelbliche Metall auf dem hellbraunen Sandboden zu suchen. Dieses Mal darauf achtend, dass ich mir dabei nicht wieder den Schädel am Griff der Schubkarre anschlage, wie beim ersten Aufheben der störrischen Schraube. Mit allen vieren auf dem Boden, kläfft es auf einmal hinter mir. Ich drehe mich um und sehe gerade noch oberhalb der Wand, hinter der sich eine langsam dem Einsturz preisgegebene ehemalige Wohnhöhle befindet, den Kopf eines Hundes verschwinden. Während er sich entfernt, ist er weiterhin munter am Bellen. Erst mit einigem Abstand gibt er sein Unterfangen auf, der weit und breit einsamen Landschaft über seine Entdeckung zu berichten. Ein Streuner, dessen Neugierde vermutlich keine Ruhe gelassen hat, bis er die Ursache der kontinuierlichen Flucherei in einer ihm sicherlich völlig fremden Sprache gefunden hatte.
Dieses Mal klappt es, die Schraube verschwindet in der Unterseite der Arbeitsplatte. Noch ein paar weitere, dann kann ich meinen zukünftigen „Badezimmer“-Schrank auf den Kopf legen und die Räder an der Unterseite montieren. Dann nur noch den Schmutz des jahrelangen Einlagerns abwaschen, die Schubladen wieder einbauen und das Ganze in meinen Anhänger schieben. Ich habe immer noch keine brauchbare Bezeichnung für das Teil gefunden. Bauartbedingt ist es ein Pferdeanhänger. Hierbei explizit ein sogenannter „Vollpoly“, also ein Gehäuse am Stück, statt der der normalerweise verwendeten Zwei-Teile-Bauweise mit hartem Unterteil, separatem Oberteil. Der Vollpoly hat den mir wichtigen Vorteil, vorne eine große Einstiegstür zu haben, statt nur eines Schlupflochs. Der Vorbesitzer hat ihn verkauft, weil er einen mit separater, vom Innenraum abgetrennter Sattelkammer haben wollte. Ich hingegen bin froh, dass es sich nur um eine große Fläche handelt. So steht mir für Materialtransporte mehr Platz zur Verfügung, sollte dergleichen mal anstehen. Auch ein irgendwann wieder anzuschaffender Quad findet bequem darin Platz. Vor allen Dingen aber kann ich das massive Gefährt während der Zeit des Herumstehens prima als Badezimmer nutzen. Endlich mal wieder nach dem Geschäft die Hose hochziehen, ohne sich an den Wänden die Ellenbogen anzuhauen. Eine Nasszelle in einem Wohnwagen ist aus meiner Sicht das wohl überflüssigste, was man für Camper erfunden hat. Oder bin ich vielleicht einfach nur etwas zu füllig gebaut? Jedenfalls diente mir diese Mikrokammer bereits in meinem Wohnmobil weit eher als Kleiderkammer, die auch klaglos regennasse Klamotten verträgt, als denn zum originären Zweck des stillen Örtchens.
Bis ich meinen „Universal-Anhänger“, nennen wir ihn mal so, bis ich irgendwann hier beim Erzählen einfach nur noch von „Bad“ spreche, aber mit meiner Trockentrenntoilette bestücken kann, bedarf es noch einiger weiterer Schrauben, der Anschaffung eines Gasofens und des ausgiebigen Einsatzes diverser Reinigungsmittel und Putzlappen. Ich glaube, so viel geputzt, wie in den bald sechs Tagen seit meiner Ankunft hier auf dem Campo, habe ich in den vergangenen sechs Monaten zu Hause nicht. Hm. „Zuhause“. Mein Blick wandert auf mein Zweithandy, das ich seit meinem ersten Spanien-Aufenthalt mit mir führe. Für meinen Job ist es quasi lebensnotwendig, dass ich unter allen Umständen online verfügbar bin. Daher war die redundante Anschaffung mit zwei unterschiedlichen Funknetzen eine der ersten Sicherheitsmaßnahmen. Dieses Reservetelefon nutze ich im Alltag bislang nur für zwei Dinge: zum einen habe ich darauf die Duolingo- und die Langotalk-App installiert, in dem weiterhin vollkommen vergeblichen Versuch, in meinem Betonschädel irgendwelche spanischen Sprachkenntnisse zu verankern. Und zum anderen dient mir Google Maps darauf als Navigationssystem. Auf diesem Handy habe ich die Gernsheimer Adresse als „Arbeit“ abgespeichert. Die Koordinaten des spanischen Campos hingegen als „Zuhause“.
Man ist dort zu Hause, wo sich das Herz wohlfühlt, habe ich mal in irgendeinem Film als Zitat aufgegriffen. Doch an der Stelle kann man dann schnell anfangen, über die Definition des Begriffs „Wohlfühlen“ zu sinnieren. Das Campo erlaubt mir eine gesunde Distanz zu vielen Dingen, wegen denen man sich in unserer heutigen Zeit von morgens bis abends aufregen könnte. Ich genieße die Stille hier auf dem Land, wobei damit nicht nur die durch Schallwellen verursachte Reizung des Trommelfells gemeint ist. Wir sind alle einem Grundrauschen an Lärm ausgesetzt, das sich als „Getriebensein“ umschreiben lässt. Hier auf dem Campo hingegen ist einfach „nichts“. Klar ist das für einen Zivilisationsmenschen wenig, gar zu wenig. Wasser in Kanistern vom Brunnen herbeischleppen, …wenn die Sonne zwischen den Wolken das Solarpanel etwas zu wenig beschienen haben, der ständige Gebrauch der Kreissäge jedoch die Powerstation auf Reserve heruntergefahren hat, abends mit einer Kerze neben dem Notebook sitzen, um Strom zu sparen, …nach dem Töpfchenbesuch nicht einfach eine Wasserspülung betätigen, sondern die mit Sägespänen vom Duften abgehaltenen Hinterlassenschaften im kompostierbaren Beutel aus dem Örtchen ins Endlager überführen, egal, ob’s stürmt oder regnet. Ja, selbst ganz banal, der Kühlschrank steht 25 Meter entfernt vom Wohnwagen in besagter nur noch als Keller-Ersatz zu nutzenden Höhle. Da trinkt man den koffeinfreien Kaffee am Abend auch schon mal schwarz, statt sich nochmal in die nur 6°C kalte Nacht hinaus zu bewegen.

Doch all dieser Ungemach geht vergessen, wenn ich mit meinem dampfenden Becher in der Hand dann an einem Abend wie heute dem Aufgang des Vollmondes zuschaue. Klar, kann man ein bequemeres Leben führen. Aber schätzt man all die Bequemlichkeiten denn wirklich noch wert? Nehmen wir das, was wir haben, nicht irgendwann einfach als vollkommen selbstverständlich hin und wollen einfach nur unentwegt mehr? Lässt uns die Routine des Alltags die Luft, irgendwann noch über das Drücken eines Resett-Knopfs nachzudenken? Oder schaffen das wirklich nur diejenigen, die durch einen Schicksalsschlag dazu gezwungen werden – allzu oft seitens der körperlichen Gesundheit.
Gedanken wie dieser bewegten mich schon im Jahr 2010, ohne dass ich sie wirklich greifen konnte. 2011 setzte ich mich erstmals hin und tippte meine verworrenen Hirnfragmente in ein ausuferndes Dokument, dem ich den Kunstbegriff „philosution“ als Überschrift verpasste, teils Businessidee, teils Tagebuch. 2012 begegnete mir ein Skipper, den man zweifelsohne mehr Inspirator als Segel-Anbieter nennen kann. Und dessen Frau sich mit dem Gedanken an die Gründung eines Unternehmens trug, das Counselors zur Qualitätssteigerung in mittelständige Betriebe vermitteln sollte. Eine neutrale Stabsstelle als Impulsgeber, von der mehr überblickt wird, als nur das kurzfristige Geschäftsergebnis. In Deutschland kennen die meisten solch eine Position maximal aus der Star Trek-Serie im Fernsehen. Doch in weiten Bereichen des Auslands ist dieses Mittelding zwischen Betriebsrat und Visionsförderer weit verbreitet.
Tja, aus der Counselor-Vermietung ist nie was geworden. Und meine eigene, im Grunde perfekt dazu passende philosution-Idee wanderte auch im Stapel der über mich hereinbrechenden Arbeit ganz nach unten. Werde ich mich „demnächst“ mal mit beschäftigen, wenn Zeit dazu ist. So nahm ich es mir immer wieder vor. Und vertagte das Thema von einem Jahr aufs nächste. Ein ganzes Jahrzehnt verstrich, gefüllt mit tausenden Erlebnissen, aus denen ich Bücher generieren könnte. Und jedes einzelne dieser Erlebnisse musste sich auch in meinem Kopf immer wieder dem Maßstab stellen, ob es nicht irgendwie als Überleitung zum Gedanken an die philosution dienen könnte. Ein Roh-Konzept, das sich bei jedem einzelnen Male dieses drüber Nachdenkens immer wieder ein Stückchen weiter entwickelte.
Bis ich dann vor zwei Jahren durch Zufall – oder eine Fügung des Schicksals? – vor die Möglichkeit gestellt wurde, für einen überschaubaren Betrag die Hälfte eines fast 17 Hektar großen Geländes in Spanien in der Mitte des Nichts zu übernehmen. Ich müsse mich nur um ein bisschen Verwaltungskram kümmern, an dem sich der aktuelle Miteigentümer seit ein paar Jahren die Zähne ausbeißt. Ein kompliziertes Verfahren ohne Vorwissen in einem anderen Land und in einer Sprache die ich nicht beherrsche? Ein völlig unmögliches Unterfangen also? Nun, mit genau sowas verdiene ich seit dreißig Jahren mein Geld, also habe ich zugesagt. Und damit noch ein Kapitel mehr in dem noch nicht geschriebenen Buch der Clarkchen Verrücktheiten begonnen.
Genau das Schreiben ist es jedoch, mit dem ich mich auch schon seit vielen Jahren deutlich mehr auseinandersetzen möchte, als denn mit dem Jonglieren von Zahlen. Auch das ein Plan, der vergeblich auf den richtigen Zeitpunkt wartet. Der richtige Zeitpunkt. Ob ich den jemals erleben werde? Gibt es den denn überhaupt?
Vielleicht werde ich irgendwann in der Zukunft einen Moment erleben, an dem ich feststelle, dass er besser geeignet gewesen wäre, um mal was Neues auszuprobieren. Vielleicht ärgere ich mich dann, dass ich nicht noch ein bisschen länger gewartet habe. Aber was soll’s, das Risiko gehe ich ein. 😉
Bis dahin probiere ich mich nun einfach mal mit ein bisschen Übungsgebiet. Ich habe noch nie einen Newsletter losgetreten, was, wie ich inzwischen lernen durfte, mit allerlei Datenschutz-Hürden versehen ist. Dazu bzw. deswegen kommt es auch noch zu reichlich technischem Zusatzaufwand. Einfach eine eMail tippen und an einen Verteiler aus den Outlook-Kontakten schicken, so stellte ich mir das in meiner grenzenlosen Naivität ursprünglich vor. Aber nein, nur allein dem Thema der Vorbereitungen dieses Newsletters mit dem Testen von haufenweise Programmen und dem Anschauen stundenlanger Tutorials könnte ich ein eigenes Buch widmen.
Nachdem ich Mitte des Jahres ein erstes Mal nach Spanien auf das erwähnte Grundstück gefahren bin und meinen Wohnwagen in das hüfthohe Gestrüpp zwang, mich im wochenlangen, sprichwörtlich teilweise blutigen Kampf gegen die sich mit allen Mitteln gegen den Conquistador zur Wehr setzenden Insekten durchgesetzt hatte und trotz der erbarmungslosen Hitze hier eine richtig schöne Zeit durchleben konnte, wollte ich unbedingt zum Jahresende eine zweite Fahrt unternehmen. Dieses Mal besser ausgestattet, vor allem in Sachen Werkzeug zum Bezwingen der Wildnis. Nach mehrfachem Vor- und Rückverschieben war es dann am ersten Adventswochenende endlich soweit. Mit voll beladenem Auto plus Pferdeanhänger rollte ich die fast 2.000 Kilometer gen Süden. Und startete mein eigenes kleines Abenteuer.
Ursprünglich hatte ich vor, über diese Reise inklusive der dazu erforderlichen Vorbereitungen und dann auch die ersten Schritte hier auf dem Campo ausführlich, zeitnah und vor allem in chronologischer Reihenfolge zu berichten. Quasi eine Art persönliches Tagebuch zu führen, in das ich andere reinschauen lasse. Exakt für diesen Zweck wurde dieser Newsletter geschaffen.
Nun muss ich jedoch zugeben, dass ich mit dem Vorhaben meine Kräfte und vor allem meine zeitlichen Potentiale enorm überschätzt habe. Das Bewältigen all der kleinen und großen Herausforderungen und zwischendurch halt eben auch noch so ein klitzeklein bisschen der Einkommenserzielung wegen althergebrachten Arbeiten nachzugehen, lastete mich dermaßen aus, dass für das Tippen von Berichten einfach keine Zeit – und zugegebenermaßen auch kein Nerv mehr zur Verfügung stand.
Ich habe nun also aus meinem Vorhaben das Wort „chronologisch“ gestrichen und steige hier heute einfach mitten drin ein. All die berichtenswerten Dinge aus den vergangenen beiden Wochen werde ich immer mal wieder zwischendurch mit einfließen lassen, denn Bilder und ein paar Notizen habe ich ja durchaus gemacht. Wie war das noch? „aufgeschoben ist nicht aufgehoben“. 😉

Auf den eingangs erwähnten Hund kam ich übrigens zu sprechen, da mir beim Lauschen des Gebells die Sorgen manch eines Gesprächspartners durch den Kopf gingen. Immer wieder werde ich gefragt, ob ich denn keine Angst hätte, so vollkommen alleine da draußen. Die nächsten Nachbargebäude sind hunderte Meter entfernt und größtenteils leerstehend, maximal als Wochenend-Quartier genutzt. Die Frage beantworte ich immer wieder mit einem klaren Nein. Natürlich ist mir manchmal mulmig zumute, wenn es im Gebüsch raschelt oder ich vor anderen unbekannten Situationen stehe. Aber bislang steckten hinter all den Begegnungen, die ich hier machen durfte, nur ziemlich neugierige Lebewesen, die fast mehr Angst vor mir hatten, als anders herum. Und die Zweibeiner, die ich in diesem Land bislang kennenlernen durfte, waren ausnahmslos äußerst aufgeschlossen, auch wenn mir leider immer noch die Möglichkeit der Kommunikation fehlt. Nun, ich sagte es ja schon: eins nach dem anderen. Auch das Problem kriege ich noch gelöst.
Für heute damit erst einmal Schluss an dieser Stelle. Fortsetzung folgt. Zu berichten gibt es genug. 🙂
Viele Grüße aus der Expedition ins Unbekannte
Euer Clark
