DAS PROJEKT

Entschleunigung • Digital Detox • Arbeit neu denken • Camposophie

Wir schreiben das Jahr 2011 christlicher Zeitrechnung. Im südhessischen Ried, genauer gesagt dem schönen Gernsheim am Rheinufer, sitzt ein Mann in seinem Kellerbüro und versucht, ein vages Konzept aus seinem Kopf auf ein Blatt Papier zu transportieren. „philosution“ hat er seine Idee getauft, einen Kunstbegriff aus den englischsprachigen Worten „philosophy“ und „solution“. Die Liebe zur Weisheit, wie sich ja die Philosophie ins Deutsche übersetzen lässt, hält für so ziemlich alle Herausforderungen der heutigen Zeit eine passende Lösung bereit, so ist es die Überzeugung des Mannes. Denn kaum ein Problem, mit dem sich die Menschheit heute herumschlägt, ist wirklich neu. Die Verpackung mag anders aussehen, die beteiligten Rahmenbedingungen mögen sich durch fortschrittlichere Sachverhalte moderner anfühlen. Aber letzten Endes geht es immer bei genauerem Hinsehen immer nur um irgendeine Spielart menschlicher Verhaltensallüren, aus denen die anstehenden Schwierigkeiten sich zusammensetzen.

Es bedarf vermutlich keiner weitergehenden Erläuterung, dass es sich bei diesem Mann um mich selbst handelt.

Zur gleichen Zeit setzen gut zweitausend Kilometer weiter südlich zahlreiche Unternehmer und Politiker ihre Unterschriften auf die letzten Vertragsdokumente, mit denen sie ein gigantisches Projekt in die Tat umsetzen wollen. „Paramount Park Alhama Murcia Spain“ trägt deren Konzept als Überschrift und ist im Gegensatz zum Werk des deutschen Grüblers bereits eine fertig ausgearbeitete, wenngleich von Beginn an etwas arg fantastisch anmutende Idee. Ein Freizeitpark der Superlative, verbunden mit einem Lifestyle-Zentrum und gigantischen Hotelanlagen sollte alles in Europa bis dahin Bekannte in den Schatten stellen. Ein Projekt in einer Größenordnung, bei der Anbetracht von zu schaffenden Arbeitsplätzen und in Aussicht stehendem Wirtschaftswachstum so ziemlich alle Bedenken und Risiken schlichtweg ausgeblendet wurden.

Natürlich lockt solch ein Vorhaben zahllose Glücksritter aus Nah und Fern an. Explizit aus Deutschland, den Niederlanden und Großbritannien zog es haufenweise Investoren in den Großraum um Murcia, in der Hoffnung, aus den Randeffekten solch eines Freizeit-Magneten Kapital schlagen zu können. Manch ein spanischer Landwirt konnte sich nach dem Verkauf seines Ackerlandes vorzeitig zur Ruhe setzen, denn die kapitalkräftigen Ausländer zahlten für die Grundstücke Traumpreise, stets in der Hoffnung, durch das Errichten einer Ferien-Wohnanlage oder irgendwelcher für die erwarteten Touristen erforderliche Infrastruktur später noch ein eigenes Vermögen zu machen.

Dieses gewinnträchtige Geschäft ließ auch viele Kleininvestoren vom großen Wurf träumen. Manch ein Privatmann nahm eine private Verschuldung in Kauf, um beim großen Bieten um die kostbaren Grundstücke mitzuspielen. Auch der ältere Bruder eines guten Jugendfreundes von mir tat sich mit einem Bekannten zusammen und räumte das Sparbuch leer. Dann kauften die beiden im nördlichen Zipfel der Communidad Murcia, ziemlich genau im Dreiländereck mit Valencia und La Mancha-Kastilien, ein viele Hektar großes Grundstück. Eine Gegend, die in früheren Zeiten einmal für ihren Mandel-Anbau berühmt war, doch seitdem es in der Region an Wasser mangelt und in den europäischen Supermärkten die Mandeln aus dem (genauso von Wasserknappheit geplagten) Kalifornien zu Spottpreisen zu haben sind, setzte eine regelrechte Landflucht ein. Das ohnehin seit jeher ziemlich dünn besiedelte Gebiet näherte sich regelrecht der Menschenleere.

Nun begann das große Warten auf den amerikanischen Filmgiganten und seine Umsetzung des Freizeitparks. Ums kurz zu machen: es wurde nie etwas daraus. Das ganze Projekt war ein einziger Rohrkrepierer. Wenn man sich heute die zahllosen Berichte im Internet über das Vorhaben durchliest, fragt man sich, wie denn damals irgendjemand auf die Geschichte hereinfallen konnte. Korruption, geschmierte Politiker, Ignorieren von Umweltschutz-Vorschriften, Fehlen von Ausgangs-Infrastruktur, von Beginn an viel zu wenig Kapitalgeber für ein an allen Ecken und Enden deutlich unter den tatsächlich zu erwartenden Kosten kalkuliertes Projekt … Nun, letztendlich passiert exakt genau das ja auch heute noch mit zahllosen anderen Großvorhaben. Und immer findet sich irgendein Dummer, der darauf hereinfällt.

Als die große Blase platzte und Paramount seine Freizeitpark-Idee aufgab, wurden über Nacht sämtliche als Spekulationsprojekte gekauften Grundstücke quasi wertlos. Die ausländischen Investoren versuchten (und versuchen bis heute) ihre erworbenen Areale wenigstens ansatzweise zum ursprünglichen Einkaufspreis wieder abzustoßen. Doch der lag ja damals schon über dem realen Marktwert. Durch die Stadtflucht der Einwohner und das damit einhergehende Wegfallen von Arbeitskräften und Jugend in den Regionen, haben die Grundstücke jedoch nochmals enorm an Wert verloren. Ein absolutes Überangebot zu unrealistischen Preisvorstellungen trifft auf einen überhaupt nicht mehr vorhandenen Markt.

Wer nicht schnell genug einen Käufer findet und es sich halbwegs leisten kann, lagert die Grundbesitzurkunde irgendwo ganz hinten in der untersten Schreibtischschublade ein und wartet auf bessere Zeiten. Irgendwann wird sich vielleicht eine neue Möglichkeit ergeben. So machte es auch der Bruder meines Freundes zusammen mit seinem Bekannten.

Leider meinte es nur Mutter Natur nicht gut mit dem Mann. In Deutschland liegt die durchschnittliche Lebenserwartung bei knapp 78 Jahren, in Spanien werden Männer gar im Schnitt 81 Jahre alt. Nur ist das mit dem Durchschnitt so eine Sache. Es gibt immer wieder Ausreißer in beide Richtungen. So verstarb der besagte Bruder bereits im Alter von nur 62, ohne je eine Chance gehabt zu haben, seinen Traum vom gewinnträchtigen Verkauf des Investitionsgrundstückes in die Tat umsetzen zu können.

Zum Tauchen hatte es mich im Laufe der Jahre ein paar Mal an die Costa Brava verschlagen, tiefer war ich nie nach Spanien vorgedrungen. Während der Corona-Pandemie hatten meine Kunden die Erfahrung machen dürfen, dass die Zusammenarbeit mit mir durchaus auch komplett online funktionieren kann. Diese Tatsache nutzte ich  Ende 2023, um dem deutschen Winterschmuddelwetter zu entfliehen und mich in etwas wärmere Breitengrade abzusetzen. Einzige Anforderung: ich wollte die Zeitzone nicht verlassen, damit ich für die Online-Zusammenarbeit weiterhin ohne Versatz zur Verfügung stehen konnte. So suchte ich mir aus tausend Ratschlägen ein Domizil mit satter Internetleitung auf airbnb aus, in dem ich mich für zweieinhalb Monate einmieten konnte.

Wochen nachdem ich mich gemütlich in dieser angemieteten Casita breit gemacht hatte, erfuhr ich erst, dass ich mich nur knappe 18 Kilometer von dem nach wie vor brachliegenden Grundstück des Bruders meines Freundes entfernt eingenistet hatte. Spanien ist anderthalbmal so groß wie Deutschland. Und ich absolviere solch eine Punktlandung. Ist das noch Zufall oder kann man bei sowas schon vom Wink des Schicksals ausgehen?

Ich habe mich aufs Fahrrad geschwungen und mir das Areal einmal genauer angesehen. Ja, da ist nichts. Also wirklich „nichts“. Eine Hälfte der Fläche war vielleicht bis vor ungefähr zwanzig Jahren noch bewirtschaftet worden. Die andere Hälfte ist bereits dermaßen verwuchert, dass vermutlich keine Zeitzeugen der letzten agrarmäßigen Nutzung mehr existieren. Und auch rundherum liegen zahllose weitere Grundstücke brach. Ein paar Mandelbäume kämpfen noch mit letzter Kraft gegen das Absterben an, doch auf den meisten Feldern liegen schon nur noch die vom häufig extrem stark blasenden Wind umgeworfenen, trockenen Überreste. Äste, die sich in dem trockenen Klima schwertun, zu verrotten. Was hier auf dem Boden liegt, mumifiziert stattdessen.

Ich bin noch ein zweites und ein drittes Mal hin geradelt. Stand jedes Mal auf dem Gelände und malte mir im Kopfe aus, wie es genutzt werden könnte. Mein philosution-Konzept sah im Ursprung vor über einem Jahrzehnt vor, dass ich kleine Seminargruppen durch das Erzgebirge führe, um Menschen aus dem gewohnten Alltag quasi zwangsweise in ein rudimentäreres Leben zu bringen und dabei ein wenig über den Sinn des Seins zu diskutieren. Warum nicht den Plan des Wanderns aufgeben und das Ganze stationär aufsetzen?

Stückchen für Stückchen erwuchs der Plan eines „Bildungscamps“ in meinem Kopf. Eine Mischung aus Campingplatz mit allem zum einfachen Leben Erforderlichen, aber dennoch gänzlich ohne jeden Luxus einerseits und einem breit gefächerten Bildungsangebot, angefangen bei Naturkunde über Selbst(wert)findung bis hin zum klassischen Sprachkurs andererseits wäre ja alles möglich. Allerdings unmöglich, so etwas alleine umzusetzen. Ich bin auch längst aus dem Alter raus, mir noch irgendein Lebensziel vorzunehmen. Nein, aus meinem politischen Engagement bringe ich jedoch meine Empfehlungen zur Renaissance der aus der Mode gekommenen „Genossenschaft“ mit. Eine Unternehmensform, die es auch in Spanien gibt. Gemeinschaftliche Stärke und Nachhaltigkeit statt kurzfristiger Gewinnmaximierung.

Doch für mich Vollblut-Bürokraten ist es leicht, Reden zu schwingen über die Einfachheit des Lebens und das Minimum dessen, was man zum Dasein braucht. Meine Besuche auf der Easy-Living, dem Katamaran eines Freundes auf der Ostsee, haben mich einiges an Leben mit begrenzten Ressourcen beim Skipper abschauen lassen. Aber es ist nun doch etwas anderes, für eins, zwei Wochen unter Urlaubsbedingungen sein Leben auf Minimum herunterzufahren und etwas ganz anderes, das wirklich eigenständig und alleine unter regulären Alltags-, also Arbeitsbedingungen, zu tun.

Verlange niemals etwas von anderen, was Du nicht selbst auch tun würdest. Um mich den unweigerlich kommenden Sprüchen im Sinne von „das geht nicht“ von vorne herein zu wappnen, muss ich also einen Selbsttest durchführen. Strom liefert die Sonne, Wasser gibt es am ein paar Kilometer entfernten Brunnen. Ein Dach überm Kopf kann man gebraucht auf Rädern erwerben. Das Handy zeigt an, dass über dem Campo mitten im Nichts volle 5G Internetverbindung zur Verfügung stehen. Supermärkte gibt es in ungefähr 20 Kilometer Entfernung mehrere. Großstädte sind ebenfalls mehrere rund 50 Kilometer entfernt. Bis zum Meer sind es 75 Kilometer. Wenn man denn da überhaupt hin will, denn sowohl südlich als auch nördlich des Campos liegt je ein großes Naturreservat, das zum Wandern und Mountainbiken einlädt.

Man kann aus dem Gelände etwas machen, auch wenn keine renditeträchtigen Feriendomizile darauf entstehen. Dafür wird in der Region auch auf absehbare Zeit die Infrastruktur fehlen. Nein, wer hierher kommt, der tut das schon mit der klaren Absicht, der Natur näherzukommen und geistig runterzufahren.

Vielleicht kann ich mit einem ausgiebigen Selbsttest ein Handbuch dazu liefern.

Aus diesen Gedankengängen heraus entwickelte sich also nun der Schritt Nummer 1: die Machbarkeits-Analyse im Eigenversuch. Und der hier im Laufe der kommenden Wochen als Logbuch angelegte Blog soll die damit einhergehenden Gedanken und Erlebnisse katalogisieren. Mit Absicht mehr in Form eines Tagebuchs als denn eines Geschäftsberichts abgefasst. Über das, was ich bereits beherrsche, referiere ich später. Jetzt wird erst einmal das in Worte gefasst, bei dem ich selbst Neuland betrete.

Damit nun also: Willkommen beim Schmökern in Erlebnissen eines Einsiedlers mit philosophischen Anwandlungen. Willkommen auf dem Campo Vida Sencilla!